Ein Geständnis vorweg: Ich liebe Helden. Sie sind mir wichtig. So wichtig, dass ich über sie schreiben möchte. Denn Helden tun mir gut.
Wenn ich über etwas schreibe, schaue ich meist zuerst, was andere zu diesem Thema zu sagen haben. Und schon der erste Google-Treffer liefert die Rechtfertigung für meine Liebeserklärung an Helden. Was lese ich da, bei Wikipedia, Stichwort „Held“, gleich unter Punkt 2, noch vor der „Wissenschaftliche(n) Behandlung“:
„Ende des Heldentums?“
O nein! Na, immerhin, ein Fragezeichen steht da, und der Hinweis: „Dieser Abschnitt bedarf einer Überarbeitung.“
Das macht Hoffnung. Ein bisschen zumindest.
Auch die Definitionen, die man anderswo findet, sind – bestenfalls – ein wenig angestaubt, so z.B. auf Duden.de:
>>>Held, der
Bedeutungsübersicht
1. a. (Mythologie) durch große und kühne Taten besonders in Kampf und Krieg sich auszeichnender Mann edler Abkunft (um den Mythen und Sagen entstanden sind)
b. jemand, der sich mit Unerschrockenheit und Mut einer schweren Aufgabe stellt, eine ungewöhnliche Tat vollbringt, die ihm Bewunderung einträgt
c. jemand, der sich durch außergewöhnliche Tapferkeit im Krieg auszeichnet und durch sein Verhalten zum Vorbild [gemacht] wird<<<
Hm. Das mag ja alles stimmen, aber es ist beinahe erheiternd „von gestern“ - allenfalls Punkt 2 könnte man hier und heute noch gelten lassen.
Wenn ich von Helden spreche, meine ich allerdings etwas anderes. Damit keine Missverständnisse aufkommen, hier meine persönliche Definition:
Helden sind Menschen mit Schwächen, über die sie sich bewusst sind, und denen es unter Aufbietung aller ihnen zur Verfügung stehenden Stärke und/oder Überwindung in einer bedrohlichen oder gar ausweglos erscheinenden Situation gelingt, sie zu überwinden und dadurch imstande zu sein, das zu tun, das sie selbst bereits als das Richtige erkannt haben, um die schwierige Situation zu meistern.
Oder, eingängiger ausgedrückt: Helden sind Menschen, die sich trotz aller Verlockung nicht für den leichten, aber falschen Weg entscheiden.
Dabei ist es zunächst unerheblich, ob es sich bei der „ausweglos erscheinenden Situation“ um fünfzig Kilo Übergewicht handelt, oder darum, zu wissen, dass man selbst leider der einzige Mensch auf der ganzen Welt ist, der vielleicht, wenn es richtig gut läuft, wenigstens theoretisch imstande wäre, Lord Voldemort zu besiegen. Oder jemandem beizustehen, der zu Unrecht angegriffen wird, oder als Kind am Tag nach der US-Präsidenten-Wahl, als gerade die ganze Grundschulklasse in Hysterie verfällt, weil die anderen glauben, mit Trump käme der 3. Weltkrieg über uns und die Lehrerin dem nicht widerspricht, zu sagen: „So ein Quatsch. Ich finde den nett.“ (Mein Kind war das übrigens, und nein, es hatte keine unangenehmen Folgen, weder für ihn noch für uns, die Lehrerin mag uns trotzdem noch...)
Genau wie Harry Potter weiß, dass He-Who-Must-Not-Be-Named entweder von ihm oder von keinem besiegt werden wird, wissen zu dicke Leute, dass sie keinem Schönheitsideal entsprechen. Genau wie Harry Potter am liebsten ein normales Leben in Frieden verbringen würde, würden manche dicken Leute gern weiterhin alles essen, worauf sie Appetit haben, und trotzdem attraktiv gefunden werden. Statt auf Süßigkeiten, Chips und Cola zu verzichten, gründen diese Manchen aber lieber eine „Gesellschaft gegen Gewichtsdiskrimnierung e.V.“ und erfinden den Tatbestand des „Lookismus“ (also: „die Diskriminierung von Individuen aufgrund deren äußeren Erscheinungsbildes“). Das, man möge mir das an dieser Stelle allzu passende englische Sprichwort nachsehen, nennt man dann wohl den Kuchen gleichzeitig aufessen und behalten zu wollen.
Normale Menschen wissen theoretisch um den richtigen Weg, und wählen trotzdem den falschen. Das ist nicht beeindruckend, aber verständlich.
Helden tun das nicht.
Oder: Normale Menschen stecken den Kopf in den Sand und hoffen, dass sie irgendwie ungeschoren davon kommen. Sie tun so, als gäbe es keinen Handlungsbedarf, weil die in Frage kommenden Handlungen so unbequem oder beängstigend sind, dass sie sich die einfach nicht zutrauen (oder zumuten wollen).
Helden gehen den schweren Weg, wenn es ihnen erforderlich erscheint. Dass Helden unmodern geworden sind, bedeutet, dass das Gehen des leichten Wegs zum Ideal erhoben wurde. Diejenigen, die den leichten Weg nicht mitgehen, werden zu oft belächelt, als „dumm“ betrachtet, im schlimmsten Fall sogar offen angefeindet.
Ich vermute, dass es daran liegt, dass Helden den Leichte-Wege-Gehern einen Maßstab vor Augen halten, bei dem sie auch nach eigener Erkenntnis das Gardemaß verfehlen. Deshalb ist es viel angenehmer, weil selbstwertdienlich, wenn es gar keine Helden gibt... deshalb muss man alles tun, um Helden zu verhindern.
Und genau das macht die in dem Wikipedia-Artikel im Abschnitt „Ende des Heldentums?“ genannte „68er-Bewegung“ seit nunmehr 50 Jahren sehr konsequent. Das Ergebnis kann man im Alltag, in der Politik, bei „Stars und Sternchen“, im Berufsleben, aber auch in Filmen, in Geschichten und Büchern bewundern. Man schaue sich nur mal moderne Protagonisten von Krimis an: Es sind entweder Alkoholiker oder Fettleibige, Soziopathen oder verkrachte Existenzen oder eine beliebige Kombination davon. Zu halbwegs gesunden persönlichen Bindungen imstande zu sein ist geradezu ein Ausschlusskriterium für den modernen Antihelden.
Mir gehen sie unglaublich auf die Nerven, all diese schwächlichen, undisziplinierten, süchtigen, selbstmitleidigen, hässlichen, verbitterten, espritlosen, humorlosen, boshaften, zynischen, „desillusionierten“ jammernden und jämmerlichen Figuren.
Noch nicht einmal vor Grundschulbüchern machen sie Halt, die „Dekonstruktivisten“ europäischer Werte. Mein kleiner Sohn und ich haben einen Schulbuchverlag als Objekt unserer gemeinsamen Abneigung entdeckt. Statt in den Lesebüchern das zu schreiben, was meine Oma vor langer, langer Zeit völlig zutreffend als „erbauliche Lektüre“ bezeichnet hat, liest man dort von mobbenden Kindern und widerwärtigen Erwachsenen, von Streit, Häme, Mobbing, Demütigung. Es gibt dort keine Geschichten mehr, in denen sich die Protagonisten als Vorbilder erweisen, die eine Art ethisches Leitbild entwerfen. Noch nicht ein einziges Mal haben wir einen Text gelesen, bei dem mein Sohn das Gefühl hatte: „Dieses Kind hat sich in einer schwierigen Lage toll verhalten, so will ich auch werden!“ Es gibt noch nicht einmal Texte, die einen unbeschwerten Kinderalltag schildern. Statt dessen werden Situationen beschrieben, die dem Leser vermitteln: „Ach, die anderen sind ja auch nicht besser als ich, im Gegenteil – viele sind eigentlich schlimmer.“
Für diese Erkenntnis brauchen weder meine Kinder noch ich ein Buch. Das wissen wir nämlich sowieso. Wir haben Sehnsucht nach Helden. Von einer guten Geschichte erwarten wir, dass sie uns auf unterhaltsame Weise zeigt, wie man schwierige Situationen meistert. Das Hochgefühl, das sich einstellt, wenn ein Held – also ein Mensch mit Schwächen in einer schwierigen Situation – es geschafft hat, aus eigener Kraft aus einer scheinbar ausweglosen Lage herauszukommen, stärkt die Zuversicht, selbst auch die Stärke dafür zu entwickeln, wenn es erforderlich ist. Wir finden also, dass es allerhöchste Zeit wird, dass das Ideal des charakterstarken Menschen das Vorbild des opportunistischen, hedonistischen, narzisstischen Schwächlings ablöst. Deshalb lieben wir Pippi Langstrumpf, Harry Potter, Sid Halley, die Jungen von Burg Schreckenstein, Miss Marple, Nick Stone, Gunvald Larsson, Jim Knopf, Lord Peter Wimsey, Winnetou und Old Shatterhand, die Fünf Freunde, Tom Sawyer und Huckleberry Finn.
Denn es gibt sie im wahren Leben ja nach wie vor, diese großartigen Menschen, die kleinen und großen Helden. Ich treffe sie jeden Tag und überall. Auch wenn man sich angewöhnt hat, sie zu übersehen – ich mache da nicht mehr mit.
Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Held (Wikipedia, Held)
https://www.duden.de/rechtschreibung/Held (Duden, Wortbedeutung: Held)
https://hpd.de/node/17923?nopaging=1 („Lookismus – Was ist das?“)
https://www.gewichtsdiskriminierung.de/gewichtsdiskriminierung/ (Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung e.V.)